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Schilf – Alles, was denkbar ist, existiert

Inhalt

Gibt es so etwas wie Realität? Und wenn ja, wie viele? Sebastian (Mark Waschke) beschäftigt sich als Physiker nicht nur beruflich mit der Parallelexistenz verschiedener Wirklichkeiten, auch sein Leben wird von Tag zu Tag surrealer. Basierend auf dem gleichnamigen Roman von Juli Zeh nimmt die Kinokoproduktion „Schilf“ den Zuschauer mit auf eine Reise durch das Labyrinth der Wahrnehmung und Gedankenexperimente. Auch wenn es der Filmversion gegenüber der Vorlage an Komplexität mangelt, verfügt das Drehbuch von Leonie Terfort und Claudia Lehmann noch immer über ausreichend Twists, um das Publikum ordentlich zu verwirren und an die Grenzen des eigenen logischen Denkvermögens zu stoßen.

Wenn es unendlich viele Wirklichkeiten gibt und wir somit alles, was wir tun könnten, in einer dieser Wirklichkeiten auch tun, dann müsste doch niemand mehr Verantwortung für sein Handeln übernehmen. Es ist ja ohnehin alles möglich. Es wird ja ohnehin alles – ob gut oder schlecht – getan. Sebastian, der sich zu Gunsten abstrakter Überlegungen wie dieser von Frau und Kind entfremdet, sieht sich plötzlich jedoch einem sehr realen Bedrohungsszenario ausgesetzt: Auf dem Weg ins Ferienlager wird Sohn Nick (Nicolas Treichel) entführt und statt einer Lösegeldforderung wird Sebastian per Telefon zu einem Mord angestiftet.

Der Held ist Opfer und Täter zugleich und auch jenseits von dieser ungewöhnlichen Charakterisierung weigert sich „Schilf“, der klassischen Krimidramaturgie zu folgen. Statt eines groß angelegten Spannungsbogens, der sich über den gesamten Film erstreckt und an dessen Ende die triumphale Enthüllung des Täters steht, bilden sich viele kleine Erzähllinien, die wie ein Kabelsalat miteinander verwoben sind. Kaum ist ein Rätsel gelöst, tut sich schon das nächste auf. Wer hat Nick entführt? Wer ist der geheimnisvolle Mann, der Sebastian vage Ratschläge gibt? Wie viel weiß die ermittelnde Kommissarin (Sandra Borgmann) wirklich? Ist Sebastian paranoid oder zieht sich die Schlinge um seinen Hals tatsächlich zu? Es sind vor allem die Kamera von Manuel Mack und das Sounddesign, die dem Zuschauer das Gefühl von Verwirrung und Realitätsverlust vermitteln. Je nach Erregungszustand des Helden, zittert auch die nun handgeführte Kamera und die Verstärkung einzelner Umweltgeräusche lassen alltägliche Begebenheiten surreal wirken. Beim Einsatz dieser audiovisuellen Gestaltungsmittel bleibt zwar durchaus Luft nach oben – „Schilf“ kann hier nicht an amerikanische Kinothriller heranreichen – trägt jedoch erfolgreich zur wachsenden Nervosität des Zuschauers bei.

Insgesamt scheitert „Schilf“ aber daran, dramaturgische Dichte zu erreichen, die das Publikum trotz der ungewöhnlichen Erzählstrategie bei der Stange halten kann. Vielleicht ist die Handlung doch zu verworren, die metaphysischen Gedanken von Parallelwelten einen Deut zu anspruchsvoll?! Vielleicht leiden auch die Charaktere unter den natürlichen Grenzen der Adaption, sind doch die Drehbuchautorinnen mit dem Stoff so frei umgegangen, dass beispielsweise die titelgebende Figur des Romans als solche im Film nicht mehr auftaucht. Vielleicht liegt es auch an der Besetzung von Schauspielern wie Stipe Erceg, der als befreundeter Physikprofessor Oskar nicht überzeugen kann. „Schilf“ droht seinen Zuschauer im Laufe der Geschichte ebenso zu verlieren, wie die Hauptfigur den Bezug zur Wirklichkeit.

„Schilf“ ist ein herausfordernder Film, der auf einem noch deutlich herausfordernderen Buch basiert. Die von Juli Zeh in den Roman verwobenen Gedanken zum Thema Schuld und Verantwortung sind nur noch schemenhaft zu erkennen und erschließen sich wohl nur jenen Zuschauern, die trotz aller Ecken und Kanten tief in die Geschichte eintauchen. Schade, dass der Komplexität des literarischen Werks in dieser Verfilmung so wenig Rechnung getragen wird. Auch macht die Vereinfachung des Konzepts den Stoff nicht leichter konsumierbar, sondern sperriger. Es bleibt zu hoffen, dass „Schilf“ den einen oder anderen Zuschauer so fasziniert, dass er sich den in Andeutung verbliebenen Gedanken und Theorien mit Hilfe der Romanvorlage noch einmal aufmerksamer widmen möchte. Das nämlich lohnt sich wirklich.